Aus dem Katalanischen von Alexander Fidora
auf der Grundlage von: Obres Selectes de Ramon Llull (1232-1316),
ed. Antoni Bonner, Palma de Mallorca 1989.
Erhabener Gott, der Du reich bist an allen ehrbaren Würden,
mit Deinem Segen, Deiner Gnade und Hilfe und mit der Absicht, Dich
zu lieben, zu ehren und Dir zu dienen, beginne ich dieses Buch,
genannt Das Buch vom Heiden und den drei Weisen.
0. Prolog
Da wir lange Zeit mit den Ungläubigen zusammengelebt und
ihre falschen Ansichten und Fehler gehört haben und damit
sie Gott unseren Herrn preisen und auf den Weg des ewigen Heils
gelangen, will ich mich, der ich ein schuldiger, gemeiner, sündiger
und von den Leuten verachteter Mensch bin, nicht würdig, dass
mein Name in dieses oder ein anderes Buch geschrieben werde, nach
dem Vorbild des arabischen Buches Vom Heiden mit all meinen Kräften
bemühen, im Vertrauen auf den Allerhöchsten eine neue
Methode und neue Argumente zu finden, durch welche die Irrenden
seiner unendlichen Herrlichkeit zugewandt werden können, um
so dem ewigen Leid zu entgehen.
Jede Wissenschaft braucht ihre Begriffe, durch welche sie ausgedrückt
werden kann. Da nun aber diese beweisende Wissenschaft dunkler Begriffe bedarf,
welche die Laien zu gebrauchen nicht gewöhnt sind, wir jedoch dieses Buch
für Laien schreiben, so werden wir kurz und mit einfachen Worten von dieser
Wissenschaft sprechen. Im Vertrauen aber auf die Gnade dessen, der die Erfüllung
aller Güter ist, hoffen wir, dass wir dieses Buch mit der gleichen Methode
durch angemessenere Begriffe für die gebildeten Menschen, die die spekulative
Wissenschaft lieben, erweitern können; denn man täte dieser Wissenschaft
und dieser Art Unrecht, wollte man sie nicht mit den passenden Begriffen darlegen
und sie nicht mit den subtilen Argumenten erklären, durch die sie am besten
dargelegt wird.
Dieses Werk ist in vier Bücher unterteilt. Das erste Buch soll beweisen,
dass Gott ist, dass in ihm die Blüten des ersten Baumes sind und dass
es eine Auferstehung gibt. Das zweite Buch handelt vom Juden, der zu beweisen
versucht, dass sein Glaube besser ist als der Glaube des Christen und der des
Sarazenen. Das dritte Buch handelt vom Christen, der zu beweisen versucht,
dass sein Glaube besser ist als der des Juden und der des Sarazenen. Das vierte
Buch handelt vom Sarazenen, der zu beweisen versucht, dass sein Glaube besser
ist als der des Juden und der des Christen.
Durch Gottes Fügung begab es sich, dass in einem Land ein
in philosophischen Dingen sehr gelehrter Heide lebte, der über
sein Alter, seinen Tod und die Glücksgüter dieser Welt
nachsann. Dieser Heide wusste nicht von Gott, noch glaubte er an
die Auferstehung oder daran, dass nach seinem Tode überhaupt
noch etwas sei.
Und sooft der Heide hieran dachte, waren seine Augen voller Tränen, und
sein Herz war voller Trauer, Seufzer und Schmerz, denn so sehr gefiel dem Heiden
das irdische Leben und so schrecklich waren ihm der Gedanke an den Tod und
die Aussicht, dass er nach seinem Tode nichts mehr sei, dass er sich nicht
trösten und auch nicht zu weinen aufhören konnte, geschweige denn
die Trauer aus seinem Herzen zu vertreiben vermochte.
Während der Heide in diese Betrachtungen und sein Leid versunken war,
kam es ihm in den Sinn, dieses Land zu verlassen und in ein fremdes Land zu
gehen, um dort vielleicht einen Ausweg aus seiner Traurigkeit zu finden. Er
beschloss, sich in einen großen und einsamen Wald zu begeben, in dem
es viele Quellen und schöne Bäume mit Früchten gab, durch welche
der menschliche Körper am Leben erhalten werden konnte. In diesem Wald
waren allerlei wilde Tiere und viele Vögel verschiedener Arten. Und der
Heide dachte, dass er in dieser Einsiedelei durch die Ansicht und den Duft
der Blüten und durch die Schönheit der Bäume, der Quellen und
Bäche vielleicht Linderung für seine düsteren Gedanken finden
könnte, die ihn aufs schwerste bestürmten und peinigten.
Als der Heide tief in diesem großen Wald war, sah er die Bäche,
die Quellen und die Wiesen, und in den Bäumen sah er Vögel aller
Arten, die ach so lieblich sangen. Unter den Bäumen waren Rehe, Hirsche,
Gazellen, Hasen und Kaninchen und viele andere Tiere, die zu betrachten ein
Vergnügen war. Die Bäume waren übersät mit Blüten
und mannigfaltigen Früchten, von denen ein sehr angenehmer Duft ausging.
Als der Heide sich aber an dem erfreuen wollte, was er sah, hörte und
roch, stieg in ihm der Gedanke an den Tod und an die Auslöschung seiner
Existenz empor, und Schmerz und Trauer vervielfachten sich in seinem Herzen.
Während der Heide in diese Betrachtungen vertieft war, die seine Trauer
mehrten und seine Qualen vervielfachten, dachte er daran, in seine Heimat zurückzukehren.
Dann jedoch besann er sich, dass dieser Gedanke und diese Trauer in sein Herz
gedrungen seien und dass sie nicht ohne jede Hilfe oder irgendein glückliches
Widerfahrnis weichen würden. Deshalb zügelte der Heide seinen Drang
umzukehren und ging weiter von einem Ort zum nächsten, von Quelle zu Quelle
und über Wiesen und Bäche, um zu versuchen, ob er nicht doch durch
irgend etwas, was er sehe oder höre, die Gedanken, in denen er war, von
sich wenden könne. Aber je mehr er lief und je mehr schöne Orte er
hinter sich ließ, desto stärker bedrängte ihn der Gedanke an
den Tod.
Der Heide sammelte Blüten und aß von den Früchten der Bäume,
um zu sehen, ob ihm nicht vielleicht der Duft der Blüten oder der Geschmack
der Früchte Erleichterung verschaffen könnten. Aber immer wenn er
daran dachte, dass er sterben müsse, und dass die Zeit käme, da er
nichts mehr sei, vervielfachten sich sein Schmerz, sein Weinen und sein Leid.
Da der Heide sich in dieser Bedrängnis befand und sich keinen Rat mehr
wusste, kniete er aus lauter Verzweiflung nieder, hob seine Hände und
Augen gen Himmel, küsste den Boden und sprach voller Andacht unter Tränen
und Seufzern die folgenden Worte:
„Unglücklicher, ich! In welches Rasen und welchen Schmerz bist du armselige
Kreatur geraten. Warum wurdest du bloß gezeugt und kamst auf diese Welt,
wenn doch niemand ist, der dir hilft, dein Leid zu tragen? Und gibt es irgend
etwas, was die Macht hat, dir zu helfen, warum erbarmt es sich nicht deiner und
eilt dir zu Hilfe? Und warum vertreibt es nicht aus deinem Herzen die dunklen
Gedanken, die nicht aufhören, dein Leid zu vermehren?"
Nachdem der Heide diese Worte gesprochen hatte, beschloss er, aufzubrechen
und so lange von einem Ort zum anderen zu ziehen, bis er eine Lösung fände.
Während er wie ein Verirrter umherlief, kam er auf eine schöne Straße,
und er entschied sich, dieser Straße zu folgen, bis er einen Ausweg aus
seinem Leid fände.
Während der Heide auf der Straße seines Weges zog,
geschah es, dass drei Weise sich am Ausgang einer Stadt trafen.
Der eine war Jude, der andere Christ, der andere Sarazene. Als
sie außerhalb der Stadtmauern waren und sich erblickten,
grüßten sie sich freundlich, kamen zusammen und begleiteten
einander. Jeder fragte den anderen nach seinem Stand und seiner
Gesundheit und danach, was er vorhabe. Und sie stimmten darin ein,
sich ein wenig im gemeinsamen Gespräch zu zerstreuen, um so
ihrem vom vielen Studieren angestrengten Geist ein wenig Erholung
zu gönnen.
So viel erzählte jeder der drei Weisen den andern von seinem Glauben und
von der Wissenschaft, die er seinen Schülern beibringe, dass sie in den
Wald gelangten, durch den der Heide wandelte. Und sie liefen durch diesen Wald,
bis sie auf eine prächtige Wiese kamen, wo eine herrliche Quelle sprudelte,
die den fünf Bäumen Wasser spendete, welche am Anfang dieses Buches
abgebildet sind. An der Quelle befand sich eine wunderschöne und edel
gewandete Dame, die auf einem Ross ritt, das aus der Quelle trank. Als die
Weisen die fünf herrlich anzuschauenden Bäume und die Dame, deren Äußeres
sehr angenehm war, erblickten, näherten sie sich der Quelle und grüßten
die Dame in großer Demut und Ergebenheit, welche ihren Gruß höflich
erwiderte.
Die Weisen fragten die Dame nach ihrem Namen, worauf sie sagte, sie heiße
Intelligenz. Die Weisen baten sie, ihnen das Wesen und die Eigenschaften der
fünf Bäume zu verraten sowie die Bedeutung der Buchstaben, die in
jeder Blüte geschrieben standen.
Die Dame antwortete ihnen und sagte: „Der erste Baum, an dem ihr 21 Blüten
seht, bezeichnet Gott und seine ungeschaffenen wesenhaften Tugenden, die auf
den Blüten stehen, wie Ihr seht. Dieser Baum hat u. a. zwei Bedingungen.
Die eine ist, dass man die größte Würde an Wesen, Tugend und
Werken stets Gott zuschreiben und auch in ihm erkennen muss. Die andere Bedingung
ist, dass die Blüten einander nicht entgegengesetzt sein dürfen und
dass die einen nicht geringer seien als die anderen. Ohne dass man diese beiden
Bedingungen kennt, kann man weder zur Erkenntnis des Baumes noch seiner Tugenden
oder Werke gelangen.
Der zweite Baum hat 49 Blüten, auf denen die sieben Tugenden des ersten
Baumes und die sieben geschaffenen Tugenden stehen, durch welche die Seligen
der ewigen Seligkeit teilhaftig werden. Dieser Baum hat u. a. zwei Bedingungen.
Die erste ist, dass die geschaffenen Tugenden umso größer und edler
sind, je deutlicher sie die ungeschaffenen Tugenden repräsentieren oder
darstellen. Die zweite ist, dass ungeschaffene und geschaffene Tugenden einander
nicht entgegengesetzt sein dürfen. Der dritte Baum hat 49 Blüten,
auf welchen die sieben Tugenden des ersten Baumes und die sieben Laster geschrieben
stehen, d. h. die sieben Todsünden, durch welche die Verdammten ins Höllenfeuer
eingehen. Dieser Baum hat u. a. zwei Bedingungen. Die erste ist, dass die göttlichen
Tugenden nicht mit den Lastern in Einklang stehen dürfen. Die zweite ist,
dass alles, was die göttlichen Tugenden durch Verwendung der Laster für
die menschliche Vernunft anschaulicher macht, bejaht werde, und alles, was
der oben genannten größeren Anschaulichkeit nicht entspricht oder
die Gegensätzlichkeit zwischen den göttlichen Tugenden und den menschlichen
Lastern abschwächt, vorbehaltlich der Bedingungen der anderen Bäume
verneint werde.
Der vierte Baum hat 21 Blüten, auf welchen die sieben geschaffenen Tugenden
geschrieben stehen. Dieser Baum hat u. a. zwei Bedingungen. Die erste lautet,
dass keine dieser Tugenden einer anderen entgegengesetzt sein darf. Die zweite
lautet, dass alles, was geeignet ist, sie zu vergrößern, oder wodurch
der Mensch ein größeres Verdienst erlangt, wahr sein muss, und sein
Gegenteil vorbehaltlich der Bedingungen der anderen Bäume falsch sein
muss.
Der fünfte Baum hat 49 Blüten, auf welchen die sieben wichtigsten
geschaffenen Tugenden und die sieben Todsünden geschrieben stehen. Dieser
Baum hat u. a. zwei Bedingungen. Die erste lautet, dass die Tugenden nicht
mit den Lastern in Einklang stehen dürfen. Die zweite lautet, dass die
den Lastern entgegengesetztesten Tugenden am meisten zu lieben sind, und die
den Tugenden am entgegengesetztesten Laster am meisten zu hassen sind.
Die zehn oben genannten Bedingungen unterliegen ihrerseits zwei Bedingungen
oder Prinzipien. Die erste lautet, dass alle zehn Bedingungen auf ein Ziel
ausgerichtet sind. Die zweite, dass sie diesem Ziel nicht entgegengesetzt sein
dürfen. Und das Ziel ist, Gott zu lieben, ihn zu erkennen, ihn zu fürchten
und ihm zu dienen.
Die oben genannten Bedingungen bestimmen die Blüten, welche die Anfangsgründe
und Unterweisungen bieten, um die Fehler derjenigen auszumerzen, die weder
Gott oder seine Werke noch ihren eigenen Glauben kennen. Mit der Erkenntnis
dieser Bäume kann man die Verzweifelten trösten und das Leid der
von düsteren Gedanken Gepeinigten lindern. Und durch diese Bäume
wehrt man der Versuchung und befreit die Seele von Schuld und Sünde. Und
wer ihre Früchte zu pflücken weiß, kann durch den Nutzen der
Bäume dem endlosen Leid entkommen und ewige Ruhe finden."
Nachdem die Dame diese Worte zu den drei Weisen gesprochen hatte, nahm sie
Abschied von ihnen und verließ sie. Die drei Weisen blieben an der Quelle
unter den fünf Bäumen und einer der drei Weisen seufzte und sprach: „Ach,
welch ein Glück wäre es, wenn doch alle Menschen dieser Erde durch
diese Bäume unter einem Gesetz und einem Glauben stünden. Nicht wären
Streit und Missgunst zwischen den Menschen, die einander wegen der Abweichung
und Gegensätzlichkeit ihrer Glauben und Religionen hassen. Und so wie
es nur einen einzigen Gott gibt, Vater, Schöpfer und Herr von allem, was
ist, so könnten sich auch alle Völker vereinigen und eines sein,
und dieses wäre auf dem Weg zum Heil. Sie alle hätten für immer
nur einen Glauben, ein Gesetz, und rühmten und preisten Gott unseren Herrn."
„Bedenken Sie, meine Herren", sagte der Weise zu seinen Begleitern, „wie groß der
Schaden ist, der daraus folgt, dass die Menschen nicht bloß eine Religion
haben, und was es alles an Gutem mit sich brächte, wenn wir nur einen Glauben,
ein Gesetz, hätten."
„Da dies nun so ist, was halten Sie davon, wenn wir uns unter diese Bäume
neben die schöne Quelle setzen und gemäß der Bedeutung der Blüten
und Bedingungen dieser Bäume darüber diskutieren, was wir glauben?
Denn da wir uns durch Autoritäten nicht verständigen können, so
lasst uns versuchen, ob wir uns mit beweisenden und notwendigen Argumenten überzeugen
können."
Alle hielten für gut, was der Weise sagte. Sie setzten sich, betrachteten
die Blüten der Bäume und riefen sich die Bedingungen und Worte ins
Gedächtnis, die die Dame gesprochen hatte, und beschlossen, ihre Diskussion
so zu führen, wie die Dame es ihnen erklärt hatte.
Gerade wollten sie beginnen, einander zu befragen, da sahen sie einen Heiden,
der durch den Wald kam. Er trug einen langen Bart und lange Haare, und er näherte
sich sehr erschöpft. Abgemagert und blass war er durch seine qualvollen
Gedanken und die lange Reise. Aus seinen Augen quollen Tränen, sein Herz
wollte nicht aufhören zu seufzen, noch sein Mund zu klagen. Seine große
Beklemmung hatte ihn durstig gemacht, so dass er zuallererst an der Quelle
trinken musste, um überhaupt sprechen zu können und die drei Weisen
zu begrüßen.
Als der Heide an der Quelle getrunken hatte und sein Atem und Geist wieder
zu Kräften gekommen waren, grüßte er in seiner Sprache und
nach seiner Sitte die drei Weisen. Die drei Weisen erwiderten seinen Gruß und
wünschten ihm, der Gott der Herrlichkeit, der Vater und Herr über
alles, was sei, der die Welt erschaffen habe und die Guten und die Schlechten
auferwecken werde, möge ihm in seiner Not beistehen, ihn trösten
und ihm helfen.
Als der Heide die Begrüßung der drei Weisen vernommen hatte, die
fünf Bäume sah, in deren Blüten er las, und die seltsame Kopfbedeckung
und Kleidung der drei Weisen bemerkte, begann er nachzudenken und wunderte
sich sehr über die Worte, die er gehört hatte, und über das,
was er sah.
„Guter Freund", sagte einer der drei Weisen, „woher kommt Ihr, und wie ist Euer
Name? Ihr scheint mir sehr betrübt und verzweifelt wegen irgend etwas. Was
habt Ihr, und warum seid Ihr an diesen Ort gekommen, und wie können wir
Euch helfen? Schüttet uns Euer Herz aus."
Der Heide antwortete und sagte, dass er aus einem fernen Land komme, dass er
ein Heide sei und wie ein Verrückter durch diesen Wald gerannt sei, und
nur der Zufall ihn hierher verschlagen habe. Er berichtete vom Schmerz und
Leid, in das ihn die Versuchung geworfen hatte. „Und als Ihr mich grüßtet
und sagtet, Gott, der die Welt erschaffen habe und die Menschen auferwecken
werde, solle mir beistehen, habe ich mich sehr gewundert, denn noch nie habe
ich von Eurem Gott reden hören, noch von der Auferstehung. Wer mir jedoch
mit einleuchtenden Argumenten die Auferstehung darlegte, könnte allen
Schmerz und alle Trauer von meiner Seele nehmen."
„Wie aber, bester Freund", sagte einer der Weisen, „glaubt Ihr nicht an Gott,
und hofft Ihr nicht auf die Auferstehung?" „Nein, mein Herr", sagte der Heide, „und
wenn es irgend etwas gibt, was meine Seele dazu bewegen könnte, an die Auferstehung
zu glauben, so bitte ich Euch, mich darin zu unterrichten, denn seid gewiss,
unbeschreiblich ist der schwere Schmerz, den ich verspüre, wenn ich an meinen
herannahenden Tod denke und daran, dass ich nach meinem Tod nichts mehr sein
werde."
Als die drei Weisen den Irrtum vernahmen, in dem sich der Heide befand, und
von dem Schmerz hörten, den er ob dieses Irrtums erdulden musste, erfüllte
Mitleid und Erbarmen ihre Herzen, und sie beschlossen, dem Heiden Gottes Existenz
zu beweisen und dass Gott in sich die Güte, Größe, Ewigkeit,
Macht, Weisheit, Liebe und Vollkommenheit hat. Und sie wollten ihm diese Dinge
mit den Blüten der fünf Bäume beweisen, um ihn so zur Erkenntnis
von Gott, seinen Tugenden und der Auferstehung zu bringen und damit sein Herz
zu erfreuen und ihn auf den Weg des Heils zu führen. Der eine der drei
Weisen sagte: „Mit welcher Methode wollen wir diese Dinge beweisen? Das beste
wäre wohl, die Anweisungen der Dame Intelligenz zu befolgen. Aber wenn
wir diese Dinge mit jeder Blüte beweisen wollen, gerät uns die Sache
zu lang. Deshalb halte ich es für angebracht, dass wir nur mit einigen
Blüten das Dasein Gottes untersuchen und beweisen, dass in ihm die sieben
oben genannten Tugenden sind und dass es eine Auferstehung gibt. Einer von
uns beginnt mit dem ersten Baum, nach diesem beweist ein anderer mit dem zweiten
Baum, und so beweisen wir dem Heiden reihum mit den fünf Bäumen,
was er unbedingt wissen muss." Die beiden Weisen befanden für gut, was
der dritte Weise sagte, und einer der Weisen fragte: „Wer von Euch beginnt?"
Ein jeder der Weisen lobte den anderen, und jeder wollte dem anderen die Ehre überlassen
zu beginnen. Als aber der Heide sah, dass sie hierüber uneins waren und
so den Beginn verzögerten, bat er einen der Weisen zu beginnen, denn sehr
quälte es ihn, dass sie so lange brauchten, um mit dem zu beginnen, was
er so dringend zu wissen verlangte.
Es beginnt das erste Buch
Der erste Baum
I. Güte Größe
„Es leuchtet dem menschlichen Verstand ein, dass das Gute und
die Größe mit dem Sein in Einklang stehen. Denn je größer
das Gute ist, umso mehr steht es mit dem Wesen oder der Tugend
oder mit beiden in Einklang. Das Schlechte und Wenige aber, welche
beide dem Guten und der Größe entgegengesetzt sind,
stehen mit dem Nichtsein in Einklang. Denn je größer
das Schlechte ist, umso mehr steht es mit weniger Sein in Einklang
als mit mehr. Und wäre nicht dies, sondern das Gegenteil der
Fall, so folgte daraus, dass jeder es vorzöge, nicht zu sein
statt zu sein, und dass ihm weniger Gutes lieber wäre als
mehr Gutes und weniger Sein lieber als mehr. Dem ist aber nicht
so, wie die Vernunft dem menschlichen Verstand beweist und wie
auch das körperliche Sehen in den sichtbaren Dingen erkennt."
„Mein Herr", sagte der Weise zum Heiden, „Ihr seht, dass alles Gute, was in den
Pflanzen, in den lebendigen Dingen und allen anderen Dingen der Welt ist, begrenzt
und endlich ist. Wenn nun Gott nichts wäre, so folgte daraus, dass es nichts
gäbe, das mit dem unendlichen Sein in Einklang stünde, und alle Güter,
die sind, stünden mit dem endlichen und begrenzten Sein in Einklang, und
das unendliche Sein stünde mit dem Nichtsein in Einklang. Da aber die endlichen
Güter mit weniger und die unendlichen mit mehr Sein in Einklang stehen,
weil nämlich Unendlichkeit mit Größe sowie Endlichkeit mit Wenigkeit
in Einklang stehen, dadurch also wird gezeigt und bewiesen, dass es, wenn geringere
endliche Güte existiert, die weniger ist und mit dem Nichtsein in Einklang
steht, unvergleichbar angebrachter ist, dass ein unendliches Gut existiert. Dieses
Gut, mein lieber Freund, ist unser Gott, höchstes Gut aller Güter,
ohne dessen Existenz all die oben genannten Unstimmigkeiten auftreten würden."
II. Größe und Ewigkeit
„Wenn die Ewigkeit nichts wäre, müsste alles, was ist,
einen Anfang haben. Wenn nun alles, was ist, einen Anfang hätte,
so folgte daraus, dass der Anfang sein eigener Anfang wäre.
Aber das, wie ihr selbst sehen werdet, meine lieben Freunde", sagte
der Weise zum Heiden, „gestattet die Vernunft nicht, denn alles,
was einen Anfang hat, muss seinen Anfang von etwas her haben, das
weder Anfang noch Ende hat, welches Etwas der Gott der Herrlichkeit
ist, was wir Euch mit den folgenden Worten beweisen: Ihr seht,
dass der Himmel beweglich ist und sich Tag und Nacht um die Erde
dreht. Nun muss aber alles, was beweglich ist, in seiner Ausdehnung
begrenzt und endlich sein. Ihr seht daraus, dass die Ausdehnung
dieser Welt endlich ist. Da aber die Ewigkeit mit Anfang und Ende
nicht in Einklang steht - hätte sie nämlich einen Anfang
und ein Ende, könnte sie nicht Ewigkeit sein -, dadurch also
wird gezeigt, dass die Ewigkeit viel eher mit der Größe
in Einklang steht, die unendlich ist, als mit der Welt, deren Ausdehnung
endlich und begrenzt ist. Und so wie die Ausdehnung der Welt mit
Begrenzung in Einklang steht, so steht sie in Einklang mit Anfang,
und auch mit Ende stünde sie in Einklang, d. h. mit dem Nichtsein,
würde sie nicht von der ewigen, unendlichen Größe
erhalten, die ihr ihren Anfang gab. Da dies sich so verhält,
so ist gezeigt, dass die Ewigkeit, die eher mit unendlicher als
mit endlicher Größe in Einklang steht, der Gott ist,
den wir suchen."
III. Ewigkeit Macht
„Es ist gewiss, dass Ewigkeit und Macht mit dem Sein in Einklang
stehen, denn wenn das, was ewig ist, nicht die Macht hätte,
ewig zu sein, so folgte daraus, dass es durch den Mangel an Macht
nicht ewig wäre. Und wenn die Ewigkeit nicht durch ihre eigene
Macht ewiges Sein hätte, sondern in ihrem Sein von einer Macht
erhalten würde, die nicht ewig wäre, so folgte daraus,
dass mehr Macht in den Dingen läge, die einen Anfang haben,
als in dem, was ewig ist, und das ist unmöglich. Durch diese
Unmöglichkeit wird Gottes Existenz bewiesen, der durch seine
eigene Macht ewig ist. Von dieser Macht geht Einfluss und Gnade
auf die Seelen der Menschen und Engel aus, so dass sie ewiglich
dauern."
Der Heide antwortete und sagte, es sei doch möglich, dass die Welt ewig
sei und von sich selbst die Macht dazu habe, ewig zu sein. Aber der Weise zerschlug
sein Argument, indem er sagte, dass genauso wie der Welt durch den Mangel an
Macht eine unendliche Ausdehnung fehle, durch ihren Mangel an Macht ihre begrenzte
und endliche Ausdehnung nicht mit der Ewigkeit in Einklang stünde, die
weder Anfang noch Ende hat.
IV. Macht Weisheit
„Es ist wahr, dass Macht und Weisheit mit dem Sein in Einklang
stehen, denn ohne Macht könnte die Weisheit nicht sein. So
wie Macht und Weisheit mit dem Sein in Einklang stehen, so stehen
ihre Gegenteile, nämlich Mangel an Macht und an Weisheit mit
dem Nichtsein in Einklang. Denn stünden sie mit dem Sein in
Einklang, so folgte daraus, dass Macht und Weisheit mit dem Nichtsein
in Einklang stünden. Und wäre dem so, so würden
die Dinge, die Macht und Weisheit besitzen, sich von Natur aus
wünschen, Mangel an Macht und an Weisheit zu besitzen, um
Sein zu haben. Aber das ist nicht wahr. Wenn aber Mangel an Macht
und an Weisheit existieren, obwohl sie mit dem Nichtsein in Einklang
stehen, wie viel angebrachter ist es dann, dass Macht und Weisheit
in etwas existieren, in dem es weder Mangel an Macht noch an Weisheit
gibt. Dieses Etwas ist Gott, denn in allen anderen Dingen ist ein
Mangel an vollkommener Macht und vollkommener Weisheit."
V. Weisheit Liebe
„Weisheit und Liebe stehen in Einklang mit dem Sein, denn je mehr
die Weisheit über das Sein weiß, desto mehr kann die
Liebe dieses Sein lieben.
In einer anderen Hinsicht stehen Weisheit und Liebe im Sein nicht in Einklang,
denn die Weisheit kennt das Sein, das die Liebe nicht liebt. Und die Weisheit
kennt gewisse Dinge, von denen die Liebe wünschte, dass die Weisheit sie
nicht kennen würde. Und solche, von denen die Weisheit weiß, dass
sie es wert sind, geliebt zu werden, die die Liebe jedoch nicht liebt. Und
solche, von denen die Weisheit weiß, dass sie nicht würdig sind,
geliebt zu werden, die jedoch von der Liebe geliebt werden.
In einer anderen Hinsicht stehen Weisheit und Liebe im Sein nicht in Einklang,
denn das, was die Weisheit nicht wissen kann, kann die Liebe durch das Licht
des Glaubens lieben. Und gewisse Dinge kann die Weisheit durch gemäßigten
Willen wissen, die sie nicht durch übergroßen Eifer oder unzureichenden
Willen wissen kann. Da nun Weisheit und Liebe mit dem Sein in Einklang stehen,
aber einander im Sein entgegengesetzt sind, und wenn solche Weisheit und Liebe
im Menschen existieren, wie viel angebrachter ist es dann, dass sie in etwas
anderem existieren, worin sie in Einklang stehen und einander nicht entgegengesetzt
sind, welches Etwas Gott ist. Wenn Gott aber nichts wäre, so folgte daraus,
dass Weisheit und Liebe nicht eher mit dem Sein in Einklang stünden, worin
sie einander nicht entgegengesetzt sind, als mit einem Sein, worin sie einander
entgegengesetzt sind. Das ist aber unmöglich, und durch diese Unmöglichkeit
wird gezeigt, dass Gott existiert."
VI. Liebe Vollkommenheit
„Liebe und Vollkommenheit stehen in Einklang mit dem Sein, und
Sein und Vollkommenheit stehen miteinander in Einklang, so wie
Mangel und Nichtsein. Wenn aber Nichtsein und Mangel mit Sein und
Vollkommenheit im Menschen und in anderen Dingen dieser Welt in
Einklang stehen, wie unvergleichbar angebrachter ist es dann, dass
Sein und Vollkommenheit in etwas in Einklang stehen, worin weder
Nichtsein noch Mangel ist. Und wenn dem nicht so wäre, so
folgte daraus, dass Sein und Vollkommenheit in nichts in Einklang
stehen könnten, wo nicht zugleich auch ihr Gegenteil wäre,
nämlich Nichtsein und Mangel. Das ist aber unmöglich,
und durch diese Unmöglichkeit wird dem menschlichen Verstand
der Beweis für die Existenz Gottes gegeben, in dem weder Nichtsein
noch Mangel sind und in dem Sein und Vollkommenheit sind. Im Menschen
und allen anderen Dingen aber ist Nichtsein, weil es eine Zeit
gab, da sie nicht waren, und es ist Mangel in ihnen, weil sie nicht
vollkommen sind. Es ist aber eine gewisse Vollkommenheit in ihnen,
weil sie sind, welches Sein in Hinblick auf das Nichtsein Vollkommenheit
ist.
Gäbe es nicht ein Sein, in dem Liebe und Vollkommenheit ohne Nichtsein
und Mangel in Einklang stünden, so würde die Liebe den Mangel von
Natur aus genauso lieben wie die Vollkommenheit, denn ohne Mangel könnte
es kein Sein und keine Vollkommenheit geben. Aber das ist nicht wahr, wodurch
gezeigt wird, dass Gott existiert, in dem Liebe, Sein und Vollkommenheit miteinander
in Einklang stehen ohne Nichtsein und Mangel. Und wenn Liebe und Vollkommenheit
miteinander in einem Sein in Einklang stehen, in dem Privation, d. h. Nichtsein,
und Mangel sind, so geschieht dies unter dem Einfluss oder besser der Fülle
Gottes, der mit Sein und Vollkommenheit in Einklang steht ohne Nichtsein und
Mangel.
Mit den sechs oben genannten Blüten haben wir Gottes Existenz dargelegt
und bewiesen, und indem wir Gottes Existenz bewiesen haben, haben wir bewiesen,
dass in ihm die oben genannten Blüten sind, ohne die Gott nicht sein könnte.
Denn wenn er ist, so folgt daraus notwendig, dass die Blüten, d. h. seine
Tugenden, sind. Genauso wie wir Gottes Existenz mit den oben genannten Blüten
bewiesen haben, könnte man es mit den restlichen Blüten des Baumes
tun. Aber da wir dieses Buch so kurz wie möglich machen wollen und noch
die Auferstehung zu beweisen haben, ist es nicht nötig, Gottes Existenz
mit den restlichen Blüten zu veranschaulichen. Vielmehr wollen wir mit
fünf Blüten dieses Baumes die Auferstehung beweisen, die wir ebenso
durch die anderen Blüten des Baumes beweisen könnten. Was das Wesen
Gottes angeht, so behaupten wir nicht, dass zwischen den Blüten des ersten
Baumes ein Unterschied besteht, was jedoch uns angeht, so ist es richtig, dass
sie sich unserem Verstand durch die Unterschiedlichkeit ihrer Handlungen als
verschieden darstellen."
VII. Güte Ewigkeit
„Gottes Güte ist ewig, und die Ewigkeit Gottes ist die Güte
Gottes. Da Ewigkeit ein viel höheres Gut ist als etwas, das
nicht ewig ist, und wenn Gott den menschlichen Leib für die
Ewigkeit geschaffen hat, so ist mehr Güte im Zweck, d. h.
dem Grund, aus dem Gott den menschlichen Körper erschuf, als
wenn der Leib ein Ende hätte, d. h. das Nichtsein, und danach
nicht mehr wäre. Wenn dem so ist und der Mensch aufersteht
und nach der Auferstehung ewiglich dauert, so werden Gottes Güte
und Ewigkeit in höherer Würde und größeren
Werken erscheinen. Und da man gemäß den Bedingungen
der Bäume Gott stets die größte Würde beilegen
soll, so folgt notwendig, dass gemäß dem göttlichen,
ewigen Einfluss durch diesen Einfluss dem menschlichen Leib Gnade
und Segen widerfahre, wodurch er die Auferstehung erlangen und
ewiglich dauern möge."
VIII. Größe Macht
„In der Natur stehen Größe und Macht miteinander in
Einklang, denn von Natur aus bringt ein Samenkorn die Pflanze oder
den Baum seiner Art wieder. Aber es bringt nicht denselben wieder,
sondern einen anderen. Dasselbe gilt für die Fortpflanzung
des Menschen, der Tiere und Vögel, denn von Natur aus geht
ein Mensch aus einem Mann und einer Frau durch Zeugung hervor und
ein Tier aus dem anderen. Aber es kommt nicht derselbe Mensch zurück,
der stirbt, noch dasselbe Tier, sondern ein anderer Mensch und
ein anderes Tier. Wenn nun die Natur so große Macht hätte,
dass sie denselben Menschen, dasselbe Tier oder denselben Baum,
der stirbt, lebendig wiederbringen könnte, so hätte sie
mehr Macht als sie tatsächlich hat. Wenn nun Gott nicht denselben
Menschen, der stirbt, auferstehen ließe, so würde er
nicht zeigen, dass seine Macht größer ist als die der
Natur. Da seine Macht aber größer ist als die der Natur,
so würde er in einen Gegensatz geraten zu seiner eigenen Macht,
seiner Liebe, seiner Vollkommenheit, seiner Güte, seiner Weisheit
und den anderen Blüten des Baumes, wenn er nicht das täte,
was seine Macht größer erscheinen lässt als die
der Natur. Dies ist jedoch nicht stimmig, und durch diese Unstimmigkeit
wird gezeigt, dass es eine Auferstehung geben wird und dass dein
Leib selbst auferstehen wird, um zu zeigen, dass Gott mächtiger
ist als die Natur."
Nachdem der Heide diese Worte gehört hatte und sich der anderen oben genannten
Beweise erinnerte, begann seine betrübte Seele sich aufzuheitern und sein
Herz freute sich, und so fragte er den Weisen, ob auch die Tiere und Vögel
auferstünden. Der Weise antwortete und verneinte die Frage, weil weder
die Tiere noch die Vögel über Vernunft und freien Willen verfügen.
Wenn sie auferstünden, so handelte Gott gegen seine Gerechtigkeit und
Weisheit, was gegen die Bedingungen der Bäume ist.
IX. Ewigkeit Weisheit
„Wie wir bereits gesagt haben, stehen Ewigkeit und Macht miteinander
in Einklang, und Macht und Weisheit stehen miteinander in Einklang,
und daraus folgt notwendig, dass Ewigkeit und Weisheit miteinander
in Einklang stehen. Denn wenn sie einander in Gott entgegengesetzt
wären, so folgte daraus, dass die Ewigkeit der Macht entgegengesetzt
wäre, die mit Weisheit in Einklang steht, und die Weisheit
der Ewigkeit entgegengesetzt wäre, die mit Macht in Einklang
steht. Das ist aber unmöglich, und durch diese Unmöglichkeit
wird gezeigt, dass Ewigkeit und Macht miteinander in Einklang stehen,
und durch diesen Einklang wird gezeigt, dass Gott sich selbst in
seiner Gerechtigkeit als ewig weise weiß. Denn wüßte
er sich selbst als ungerecht, könnte er sich nicht als ewig
weise wissen. Da es nun viele schlechte Menschen gibt, die Gott
in dieser Welt nicht bestraft, und viele heilige Menschen aus Liebe
zu Gott oder aus Nächstenliebe und Gerechtigkeit den Armen
gegenüber Buße tun und Hunger, Durst, Kälte, Qualen
und den Tod erleiden und in dieser Welt nicht belohnt werden, dadurch
wird die Auferstehung bewiesen. Denn so wie der Mensch dasjenige
Etwas ist, das in dieser Welt Gutes oder Schlechtes tut, so muss
die Gerechtigkeit belohnen oder bestrafen, was der Mensch ist.
Dieses Etwas wäre der Mensch nicht, wenn er weniger als ein
menschlicher Leib wäre, und die Gerechtigkeit stünde
nicht mit den Blüten dieses Baumes in Einklang, und die Blüten
wären einander entgegengesetzt."
X. Macht Liebe
„Mein Herr", sagte der Weise zum Heiden, „die Liebe, die im Menschen
ist, kann so viel lieben, wie sie wollen will, aber sie kann nicht
so viel haben, wie sie wollen kann, und damit wird gezeigt, dass
es für den Willen leichter ist zu lieben als das zu haben,
was er haben will. Wenn nun im Menschen Macht und Liebe in Einklang
miteinander stünden, derart dass der Wille alles, was er wollen
könnte, auch haben könnte, so folgte daraus eine größere
Eintracht, Vollkommenheit und Gleichheit im Sein des Menschen,
als wenn der Wille nicht die Macht hätte, alles zu haben,
was er wollen kann. Da aber größere Eintracht, Vollkommenheit
und Gleichheit mit dem Sein besser in Einklang stehen als weniger
Eintracht, Vollkommenheit und Gleichheit, so folgt daraus, dass,
wenn weniger Eintracht, Vollkommenheit und Gleichheit im Sein existieren,
auch größere Eintracht, Vollkommenheit und Gleichheit
im Sein existieren. Und wenn dem nicht so wäre, so folgte
daraus eine Unstimmigkeit zwischen Sein und größer;
und weniger, Mangel und Ungleichheit stünden mit dem Sein
besser in Einklang als größer, Vollkommenheit und Gleichheit.
Das ist aber unmöglich, denn wäre es möglich, so
stünden größer und Nichtsein einerseits und weniger
und Sein andererseits in Einklang, und das ist unstimmig. Durch
diese Unstimmigkeit wird gezeigt, dass notwendigerweise etwas existieren
muss, worin Macht und Liebe miteinander in Einklang stehen und
worin die Liebe alles wollen und haben kann, was sie will. Und
dieses Etwas kann nur Gott sein, denn nichts anderes könnte
so viel haben, wie es wollen kann."
XI. Weisheit Vollkommenheit
„Je vollkommener das Werk ist, desto deutlicher gibt es die Weisheit
des Meisters wieder, der es erschaffen hat. Wenn nun Gott den Menschen
mit der Absicht erschuf, dass der Mensch auferstehe und ewig sei,
so ist die Absicht Gottes bei der Erschaffung des Menschen würdiger,
als wenn er ihn mit der Absicht erschaffen hätte, dass er
nicht ewig sei. Und je würdiger die Absicht und Erwägung
ist, desto größer ist das Werk. Und durch die Größe
und Würde des Werkes zeigt sich die größere Weisheit
des Meisters deutlicher. Wenn nun gemäß der Bedingung
des ersten Baumes Gott stets die höchste Würde beizulegen
ist und durch die höchste Würde die Auferstehung bewiesen
wird, so ist die Auferstehung darlegbar und beweisbar."
Nachdem der Weise dem Heiden bewiesen hatte, dass Gott existiert,
dass in ihm die Blüten des ersten Baumes sind und dass es
eine Auferstehung geben muss, begann der andere Weise, dieselben
Dinge mit dem zweiten Baum zu beweisen, und wählte einige
Blüten aus, um diejenigen Dinge zu beweisen, die der erste
Weise mit dem ersten Baum bewiesen hatte.
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